Ernst Herhaus: Bleibende Hilfe

Ich erzähle eine Geschichte, die mir aufging, als ich zehn Jahre alt wurde: Meine Schwester war sechs Jahre alt geworden. Sie lebte anonym. Sie hatte bei der Geburt eine Gehirnblutung erlitten. Ich erfuhr nichts über die Umstände, denn Verzweifelte schweigen. Ich litt in zunehmender und unerklärlicher Angst, aber ich war nicht verzweifelt und konnte damals nicht verstehen, warum das Leid uns so stumm machte. Ich teilte das Verstummen der Erwachsenen und liebte meine Schwester. Sie hatte Anmut gehabt, lebte verlangsamt. Sie lernte wenig und das Wenige unvorstellbar langsam, aber sie behielt Schönes. Sie vergaß Schlimmes und behielt Schönes. Ich fuhr sie im Wagen durch das Dorf und die Leute sagten: „Er fährt wieder sein blödes Schwesterchen spazieren.“ Da fühlte ich mit Doris die einzige bleibende Hilfe, Gemeinsamkeit, denn ich wurde auch anonym. Noch sorgsamer kümmerte ich mich nun um sie. Ich erzählte Doris, sie begann zu sprechen. Ich fuhr sie im Wägelchen und erzählte ihr dabei und sie begann zu sprechen. Es kamen umständliche und schrecklich verlangsamte Dinge aus ihrem Mund. Wilm war an der Westfront. Eines Tages sagte Doris zu mir: „Ernst …? Du bist mein Bruder …?“ Sie dehnte jedes Wort so langsam aus und jeder Satz meiner Schwester endete als eine von ferne herwehende Frage. Das berührte mich tief. In unserer geschwisterlichen Anonymität verstärkte das Gerede der Leute unsere Liebe. Ich fühlte, daß in mir eine starke Ruhe war, Doris immer inniger zu lieben. Ihr Leiden war kein Makel, denn es hatte Gestalt: Die Liebe mener Schwester war vollkommen ohne Hintersinn. So erfaßte ich die von keinem Normaleren jemals zu vollendende Form menschenrichtiger Sprache: fragende Sprache. Die Leute tuschelten, wenn ich, holzsteif, meine kleine Schwester durch das Dorf fuhr. Da fühlte ich die Heranwehung bleibender Hilfe, denn ich haßte nicht das böse Getuschel der Leute, nur Schmerz schlug mich lahm, meine Unfähigkeit, den Leuten zu erzählen, warum meine Schwester mir so innig vertraut und warum sie ein geistiger Helfer in meinem Dorfleben, in meinem Angstschlaf kindheit, gewordenwar. Die Hilfe war die Liebe zwichen uns, Liebe untereinander. Die bleibende Hilfe kam von sehr weit draußen. Sie war jene höhere Macht, die allen Haß aus meiner Schwester und mir mächtig und gewaltlos fortnahm. Der Schmerz war das Nichtsprechenkönnen.

in: Kapitulation (1977)

Ida von Lüttichau: Über Ästhetik und Wahrheit (1845)

Sie sagen bey Gelegenheit des Tristan „Schönheit, Sittlichkeit u Jugend gehören in letzter Stelle wesentlich zu einander.“ Daß diese Unterscheidungen in unsern Begriffen nothwendig sind, u sie zu einer Art Einheit herauszuarbeiten die Aufgabe aller Entwikkelung ist, versteht sich von selbst. Immer aber wird ein Etwas zurückbleiben, was, wie das factum der Existenz an sich, auf keines dieser drey Bedingungen zurückzuführen ist, u was darum doch nicht das Häßliche, Sündhafte u die Lüge ist.

Wenn man unter dem Wort „Wahrheit“ nicht auch das Schöne, das Rechte, das Gute zu verstehen gelernt hätte, so würde die Wahrheit (das was eben ist ohne alle andre Nebenbedingung) das ausdrükken, was sich herauslebt, ohne unser Dazuthun, u für das wir unzurechnungsfähig sind. Wir, als Menschen müssen freilich von dem Begriff der Freiheit ausgehen, uns also für zurechnungsfähig halten, weil uns nicht nur scheinbar, sondern auch gewissermaaßen wirklich die consequenz der Dinge in die Hände gegeben ist. Allein die Gottheit, die die inneren Gesetze der Nothwendigkeit kennt, die wir nicht kennen, hebt die Schuld da auf, wo wir sie finden müssen u finden sollen.

Und so denke ich mir die tiefe mystische Bedeutung der christlichen Lehre. Von diesem Geheimniß alles Lebens nun liegt etwas im Tristan, was eben dadurch, daß es von keinem Recht, keiner Sittlichkeit, keiner Verschuldung etwas weiß, das Unausgesprochene doch ausdrückt, was die Berichtigung alles Seyns im denken, im fühlen, im handeln, ausmacht, nach ganz anderen Gesetzen als denen, die unserm Bewußtseyn offen daliegen.

Darum gefällt mir eben diese Unconsequenz, dieses ganz unmotivirte nach Außen hin, dieß oft zerrissene, haltlose, das Abweichende von aller Form, selbst der Schönheit in dem Sinne, wie wir die Schönheit verstehen müssen, mit dem Recht u der Wahrheit verbunden. So angesehen fällt der Gedanke alles Lebens wieder mit der schuldlosen Schuld der Alten zusammen: diese tiefere Mystik alles Daseyns geht durch alle Geschichte, u es auf die Weise in Wort u Gestalt zu bringen konnte eben nur das Werk einer Zeit seyn, wo das Formlose, Traumartige einerseits, u die große Gegenständlichkeit, die in allen Bestrebungen lag, wieder anderseits eine Kraft der Seele hervorrief, die nicht unsre Begeisterung ist (wie wir das Wort verstehen), sondern eine gewisse Brut-Wärme des Geistes, in der ganz wunderbare Lebenskeime der Wahrheit liegen.

Brief an Friedrich v. Raumer (Februar/März 1945)
in: WAHRHEIT DER SEELE – IDA VON LÜTTICHAU, Ergänzungsband‘ (Berlin 2015. Seite 176)

Ida von Lüttichau: Über Individualität (1843)

Ich verstehe Sie vollkommen: jedes Individuum u sein Schicksal ist ein anderes, in sich motivirtes, u bedingtes: alles berechnen, zusammenstellen, folgern wollen kommt mir immer mehr ganz falsch in der Welt vor. Statt daß sich mir die Begriffe generalisiren, werden sie immer mehr in ihrer Einzelheit mir zum Ganzen. Es ist genug an dem, was da ist, daß wir es einigermaaßen rückwärts begreifen, vorwärts stelle ich gar kein raisonnement mehr auf. Wir wissen nur, was wir selbst erleben, u nehmen überhaupt das Individuellste immer noch nicht individuell genug. So denke ich mich in Sie hinein, in dieses Ihr Gefühl Ihrer innersten vocation, wenn jeder auf Erden auch vielleicht nur seine eigne versteht. Aber wir lassen noch immer nicht genug jedem die seinige gelten, u auf eben diese innere vocation sollte doch alles hinausgearbeitet werden können: das Nächste, u Nothwendigste ist immer, nicht das sogenannte Rechte wie es uns von Jugend auf gelehrt wird, denn das ist doch oft nur ein abstractum, sondern die innerste Wahrheit des Impulses. In ihr ist Kraft, u sie giebt Kraft, u um ihrer Willen leiden, oder selbst daran untergehen, darinn liegt ein Trost u eine Begnadigung.

Ida v. Lüttichau: Brief an Friedrich v. Raumer (1843)
(in: ‚Wahrheit der Seele. Ergänzungsband‘, Berlin 2015, Seite 155)

Ida von Lüttichau: Leben und Tod (1841)

Auch war von mir nichts zu sagen, da alles auf Leben u Tod stand. Letzteres kurze vielsagende Wort hätte Ihnen alles gesagt, u blieb ich leben, wie es nun gekommen ist, so ist die Zukunft, die noch mein ist, meinen Freunden. Sie haben viel Äußeres in dieser Zeit, ich unendlich viel Inneres erlebt, eben von der Art, wie es sich auch gar nicht mehr in Worte fassen läßt; über alle Modulationen hinaus, in einem Bereich der Seele, wo zuletzt alles zu subjectiv wird, um irgend noch mitgetheilt werden zu können. Das sind die Zeiten, in denen Gott allein von uns weiß, hoffentlich in Langmuth u Erbarmung. Letztere erfärth man denn auch entweder im Sichtbaren, denn jedes neue Leben ist ein Wunder, oder im Geheimniß des Todes, von dem ich aber nur die ersten wunderbaren Töne vernommen, Ihnen also damit noch zur Zeit nicht dienen kann.

Ida v. Lüttichau: Brief an Friedrich v. Raumer im Herbst 1841
(‚Wahrheit der Seele. Ergänzungsband‘, Berlin 2015, Seite 119/120)

Ida von Lüttichau: Über die Ansprüche der Zivilisation (1840)

Eigentlich sind die praetensionen [Forderungen] an Gott unendlich gestiegen: wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, wie klagte da Niemand über Wetter, kalte nordische Sommer; man wußte, daß man eben kein italisches Clima habe u. sehnte sich nicht danach; die Jugend war frisch oder krank, wie es eben kam, das Alter kränklich, wie es die Zeit mit sich bringt, u keinem fiel ein, viel dabey thun, ewig an sich ausbessern zu wollen. Wir verlangen jährlich Brunnenkuren, dazu das Wetter, was wir uns jedesmahl passend bestellen möchten; wir wollen das Alter hinausrükken, als wenn Jugend oder Anschein davon zur civilisation u cultur gehörte, kurz alle unsre Anforderungen sind ungeheuer gestiegen.
Mit dem generalisiren, dem ungeheuren cosmopolitismus verlangen wir die Vortheile aller Nazionen, aller Zonen, kurz die aller verschiedenartigsten, sich selbst wiedersprechendsten Zustände.
Wie der Geist durch die civilisation das Alles in sich aufgenommen hat, soll es auch wo möglich die äußere Existenz wiedergeben, u. daher natürlich die Unzulänglichkeit u. Unersättlichkeit, die gar sich nicht einmahl als falsche Begierde erscheint, nein – nur wie ein Riese mehr verzehrt wie ein Andrer, so bedarf unser Geist u. unser Sehnen noch mehr als bisher in der Wirklichkeit vorhanden war. Alle neuen Erfindungen streben diesem auch nach, u. erreichen es gewissermaaßen, aber wir wollen immer weiter u. merken nicht, wie viel wir schon gewaltsam der Natur fast über das Maaß hinaus abgedrungen haben.

‚Wahrheit der Seele – Ida von Lüttichau (1896-1956)‘ (Ergänzungsband, Berlin 2015; Seite 100/1)

Ida von Lüttichau: Zur Situation der Frauen (1840)

Vom Mittel Alter her datirt sich ein allgemeiner Begriff unter dem den Frauen gestellt werden. Sie galten damahls für das was man sich unter der Vorstellung von häuslicher Tugend u Einfachheit, Sitte, Religösität u Liebe, dachte: sie waren auch wohl im allgemeinen unter einer rubrik zu classificiren nur mit dem Unterschiede daß der damahlige größere Unterschied die Stände, die vielen Klöster, selbst die gedrängteren Ereigniße der Geschichte mannigfache abweichungen darboten. Diesen allgermeinen Begriff für die Frauen haben wir nun aus dem Mittelalter mit hinübergenommen, nur noch hinzugefügt was das 14te Jahrhundert in Frankreich aus den Frauen herausgebildet hat u nun haben wir wieder ein allgemeines schema, dem Alles untergelegt wird, die ideale Frau aus dem Mittelalter civilisirt mit der cultur u modernen Bildung unsrer Zeiten. Dieses allgemeine rezept lautet ohngefähr so. Liebe, Unschuld, 4 Sprachen, eben so viel Talente/ zur virtuosität gebracht, Belesenheit, u nun noch dazu wie der Franzose sagt sagt dressée pour la cuisine et le salon. Und so wird jede in derselben Zwangs Jakke erzogen u nur die geringen Charakter-Abweichungen laßen noch eine Art Indiwidualität zurück.

Wie ist es uns aber nicht beygefallen daß wenn die Bildung unter den Frauen jetzt ganz etwas anderes ist als es vor Zeiten war, u nothwendig seyn muß weil eine Maße von Kenntniße populär geworden sind die es sonst nicht waren, das nothwendigste wäre um diese geistige cultur jedem einzelnen anzupaßen u homogen zu machen: daß Frauen, wie es bey den jungen Leuten der Fall ist, die verschiedensten Richtungen frey gelaßen würden, u eine jede ein Fach des Wißens oder eine Region der Seele sich wählen dürfte die sich ihrer Natur am meisten qualifiziren. Eh‘ wir nicht eine solche Freiheit der Erziehung haben werden wir nie etwas reelles aus den Frauen herausbilden. Erzieht sie zu Müttern, zu Gattinnen! Welcher allgemeine Begriff! u was hat man sich darunter zu denken! Die Hauptbahn die darunter verstanden wird ist das allgemein Menschliche u ist Sache der Riligion u moral eben so wie es bey Männern die Grundlage aller Erziehung seyn soll.

Aber wenn der junge Mann zum Menschen herangebildet worden, wählt er sich einen Beruf, ein Fach, eine Lieblings Neigung, kurz eine Lebensrichtung u jede wird gewürdigt u anerkannt u selbst nicht der Gelehrte steht, wenn auch sein Streben das allergeistigste genannt werden kann dem andern voran, sondern jeder Beruf hat seine Rechte, jede Seelenrichtung wird anerkannt, die praktische wie die ideelle nur verlangt man daß Liebe zu ihm, Ernst u Nachhaltigkeit zum Grunde liege. Wann werden wir sehen daß unter 6 Töchter in einer Familie jede nachdem die allgemeine Erziehung wie bey Knaben für alle dieselbe war, eine jede einen andern ihr angebohrnen Weg einschlagen dürfe, ohne daß die der die intellectuelle Bildung näher liegt als die rein auf das wirthschaftliche u häusliche gerichtete dieser vorangesetzt wird wie dem typus einer Frau schon nähergetretnen.

Die Verwirrung dieser falschen Begriffe, dieses völlige nivelliren aller Charakter Eigenthümlichkeit ist schon bey uns so durchgehend u tief mit unsern instituzionen verwachsen daß gar nicht mehr dem Dinge beyzukommen ist. Auch ist die Zeit der Erziehung für Mädchen viel zu kurz um irgend eine Eigenthümlichkeit zu entfalten sie wachsen in den Begriff auf u hinein d’une demoiselle bien élevée, alles was sie lesen was sie hören, was ihnen beygebracht wird giebt ihnen nun dieses todte Ideal als Zielpunkt ihres strebens. Was wunder also daß jede nur dahintrachtet dieses zu erreichen u somit etwas ganz conventionelles erreicht wird was sich zwaar etwas modificirt durch Verhältniße, charakter Verschiedenheit aber doch im Grunde ein u daßelbe Schema für alle ist.

Was würde aus den Männern wenn nicht mehr der jurist, der militair der Künstler der Gelehrte kurz tausend nuancirungen aus ihnen herausgebildet würden sondern sie alle nur dem leeren Begriff u Ideal der Menschheit nachjagten. Darum finden sich Frauen deren Lebensberuf als Gattinn oder Mutter verfehlt ist nie zurecht, was in niedrigeren Ständen durchaus nie ein solches Elend mit sich bringt wo jede sich einen Beruf geschafft hat, darum wißen sie selbst mit dem Schatz von Bildung der ihnen oft anerzogen worden nicht umzugehen, wenn eine nicht selbst Kraft u energie genug hat zu fühlen was ihre innere Richtung sey u diese zu verfolgen was allein die wahre Genüge giebt.

Warlich dieser allgemeine Frauen Stempel ist etwas so hohles so langweiliges, so durchaus richtungsloses daß wir uns nicht wundern können wenn alle Eigenthümlichkeit, alle originalität, alle Kraft der Indiwidualität verlohren geht in diesen armen Wesen die sich u ihr Leben vorher ablesen in alle romane u dann so abspielen, wie sie denken es thun zu müßen, die sich ganz an einen todten Begriff von Weiblichkeit u Liebe verlieren bis sie auf irgend eine Weise in der Wirklichkeit in ihm aufgehen können während doch laufend frische Kräfte in ihnen wären die gar nicht sich entfalten können weil sie es in diesem engen Kreise gar nicht können!

Daß eine allgemeine basis des Schul Unterrichts statt finden müße wer wollte das leugnen allein jedes Mädchen wüßte sich mit dem Gedanken vertraut daß sie nächst dem daß sie als Gattin u Mutter wie der Mann als Bürger im Staat in der Familie wurzelt nebenher eine Richtung als Mensch verfolgen dürfe die ihr angemeßen sey.

Ida von Lüttichau: Tagebuchaufzeichnung 1840
in: Wahrheit der Seele – Ida von Lüttichau. Ergänzungsband (Berlin 2015, Seite 19-21)

Heinrich Hauser: Berlin 1935

Sollte es sich mit Berlin nicht vielleicht umgekehrt verhalten wie mit anderen Großstädten, nämlichso, daß seine enorme Ausdehnung nicht der Reichtum des Nährbodens, sondern im Gegenteil seine Armut begründet? Daß der geringe Ertrag dieses Bodens die Einbeziehung immer neuer Bodenstücke erfordert? Hat nicht Berlin nomadenhaften Charakter? Ist nicht die Stadt dauernd auf der Wanderschaft, Umzug in Permanenz? Ist es nicht typisch für Berlin, daß sein Schwerpunkt sich andauernd verschoben hat und verschiebt? Verfallen nicht alte Quartiere genau so schnell wie neue emporblühen? Sind nicht der Bauzaun und die aufgerissenen Straßen die Wahrzeichen Berlins? Könnte man nicht die ganze Stadt auffassen als ein ungeheures Nomadenlager, das man abbrechen und an anderer Stelle wieder aufbauen kann?

(…) Vor ein paar Jahren kannte ich in dieser Gegend noch eine ganze Reihe von versteckten Seen, an deren Ufer kaum je ein Sonntagsausflügler sich verirrte. Heute hat die Bodenspekulation alle diese „Objekte“ mit Beschlag belegt. Sie führt ihre Seen in Zeitungsanzeigen anpreisend vor, wie ein Zirkus seine Löwengruppen: als merkwürdige Raritäten für die Großstäder. Die Spekulanten teilen die Ufer in die schmalen Handtuchstreifen ihrer Parzellen auf, um ja den größten Verkaufswert durch möglichst viele „Wassergrundstücke“ zu erzielen. Sie umzäunen das freie Land, das man jetzt nur noch unter dem Joch ihrer Triumphtore betreten kann, vorbei an Kassenhäuschen und Auskunftsbüros. Mit Trompetengeschmetter, mit Freifahrt in Autos, mit Freikaffee und Umsonst-Kuchen, mit wehenden Fahnen und bestellten Lobpreisungen aller Art werden Kunden „gefangen“.

Heinrich Hauser: ‚Fahrten und Abenteuer im Wohnwagen‘ (Dresden 1935; Neuausgabe Stuttgart 2004, Seite 42-43)

Heinrich Hauser: Roma in Belgrad (1937)

Heinrich Hauser_Roma in Rumänien_1937

Zigeunerinnen sangen Volkslieder. In diesen Melodien war der Karst mit seinen zauberhaften Licht- und Schattenspielen, war das Rauschen der Bergströme, war der tierische Klang des Dudelsacks, das Blöken der Schafherde, die Glocken der Leitkühe auf den Almen. Niemals zuvor habe ich so viel Liebe, Sehnsucht und Traurigkeit im Lied gehört. – Die Haltung der Sängerinnen war streng und gemessen, benahe spanischer Stil. Sie begleiteten sich mit dem Tamburin, das senkrecht hochgehalten wurde, nur ganz leise bwwegt. Die Elemente des Tanzes, der die Musik begleitete, waren ganz orientalisch, streng und gemessen war auch das Kreisen des Bauchs, das Schütteln der Brüste. Später ging das Tamburin, flach gelegt, zwischen den Tischen sammeln. Freigiebig klirrten die Münzen auf das Pergament. Aber man spaßte nicht mit diesen schönen Mädchen. Nein, es handelte sich um Kunst; Erinnerungen, Gefühle wallten auf, verschiedene in jedem einzelnen, Tränen flossen über wetterbraune männliche Gesichter. Man weinte leicht, man liebte es, gerührt zu sein.

HEINRICH HAUSER: Süd-Ost-Europa ist erwacht (Berlin 1938: Rowohlt Verlag)

 

HEINRICH HAUSER: Begegnung der Urzeit

Ich schiebe das Rad einen steilen Hügelkamm hinauf, anstampend gegen den Wind, den Kopf tief über die Lenkstange gebeugt. Auf einmal im Grau der Steppe – ein schwarzer Hügel – er bewegt sich! – Im nächsten Augenblick liegen Rad und Mann platt am Boden.

Elch! Keine dreißig Meter entfernt. – Mit Herzklopfen auf Händen und Füßen bis zum Hügelrand, Kopf heben, Zoll um Zoll, vor Erregung zitternd. Es sind vier Stück, ein großer Schaufler, zwei Kühe und ein Kalb friedlich äsend. Ich wage meinen Augen kaum zu trauen. In ihrer Ruhe sind die Formen dieser Leiber der Landschaft so verwachsen, daß man sie für Hügel oder Bäume halten könnte. Trotz ihrer auffallend dunklen Färbung vermählen sie sich schattenhaft den Bodenfalten, dem Gestrüpp.

Der große Schaufler wirft den Kopf und windet. Was für ein Haupt! Unter der schwarzen Kuppe des Widerrists schwingt es von einer Seite auf die andere, selbst jetzt, in der Bewegung noch einem Stück der Landschaft, einem windgeschüttelten Buschwerk ähnlich. Grau ist die Mähne, grau sind die hohen, dünnen Säulen seiner Beine, schwarz ist der Leib. Jetzt kommt die dunkle Masse in ziehende Bewegung, die hellen Stämme der Beine knicken ein, langsam, weitgreifend im Schwung. Die großen Lauscher zucken, der Zackenrand der Schaufeln hebt sich deutlich gegen den Himmel ab. Schräg zieht er mir entgegen, wachsend mit jedem Schritt. – Steht, keine zwanzig Meter mehr entfernt, hoch auf dem Kamm des Hügels, sieht auf mich herab. Ruhig, unbeirrt, als hätte er längst von mir gewußt. Eine wundervolle Würde liegt in seiner Haltung; etwas von der Trauer, die stets die letzten eines alten Geschlechts umweht. Reglos, das schwere, gekrönte Haupt gegen die ziehenden Wolken gestellt, gleicht er einem lebenden Denkmal.
Die Kühe haben die Köpfe aufgeworfen, sie setzen sich in Gang, einen ziehenden, zeitlupenhaften und doch seltsam fördernden Gang. Sie halten sich weit überm Wind. Ein unerhörtes Schauspiel, dieser federnd-schwingende Trab, etwas Gespenstisches. Man begreift mit einemmal, wie diese riesigen Leiber über die schwankende Decke der Moore mehr schweben als laufen.

Jetzt zieht der Schaufler mit langsamen, unendlich langen Schritten quer über die Straße. Er verschwindet im Wald. Die Kühe folgen. Minutenlang sehe ich noch ihre Häupter hocherhoben durch dieZweige wippen. Dann ist die Erscheinung entschwunden.

Dies ist die Gegend zwischen Perwelk und Preil, zwei kleinen Fischerdörfern, die in etwa zwei Kilometer Entfernung am Haffstrand liegen. Diese flache, sumpf- und gestrüppbedeckte Landschaft ist die Zufluchtstelle für die letzte geschlossene Elchherde, die etwa hundert Tiere zählt.

Heinrich Hauser: Wetter im Osten (Jena 1932)

Itzig Manger (1901-1969)

Ich bin mid,
a gite nacht.
S’kleben schwer sich meine ojgen,
Wi a cholem is farflojgn
libe, lider un gedacht.
halb in schlof un halb in drimmel
papple ich mein letztes lid.
sej, a fojgl is geflojgn
fun der erd bis zu dem himmel.
ich hob ajch a trojm gebracht
un ir hot in obgestojssn.
wen gekumen is di nacht,
hot ir mich gelosst in drojssn.
ich hob ajch a trojm gebracht,
un ihr hot in obgestojssn.

ITZIG MANGER