Ida von Lüttichau: Über Ästhetik und Wahrheit (1845)

Sie sagen bey Gelegenheit des Tristan „Schönheit, Sittlichkeit u Jugend gehören in letzter Stelle wesentlich zu einander.“ Daß diese Unterscheidungen in unsern Begriffen nothwendig sind, u sie zu einer Art Einheit herauszuarbeiten die Aufgabe aller Entwikkelung ist, versteht sich von selbst. Immer aber wird ein Etwas zurückbleiben, was, wie das factum der Existenz an sich, auf keines dieser drey Bedingungen zurückzuführen ist, u was darum doch nicht das Häßliche, Sündhafte u die Lüge ist.

Wenn man unter dem Wort „Wahrheit“ nicht auch das Schöne, das Rechte, das Gute zu verstehen gelernt hätte, so würde die Wahrheit (das was eben ist ohne alle andre Nebenbedingung) das ausdrükken, was sich herauslebt, ohne unser Dazuthun, u für das wir unzurechnungsfähig sind. Wir, als Menschen müssen freilich von dem Begriff der Freiheit ausgehen, uns also für zurechnungsfähig halten, weil uns nicht nur scheinbar, sondern auch gewissermaaßen wirklich die consequenz der Dinge in die Hände gegeben ist. Allein die Gottheit, die die inneren Gesetze der Nothwendigkeit kennt, die wir nicht kennen, hebt die Schuld da auf, wo wir sie finden müssen u finden sollen.

Und so denke ich mir die tiefe mystische Bedeutung der christlichen Lehre. Von diesem Geheimniß alles Lebens nun liegt etwas im Tristan, was eben dadurch, daß es von keinem Recht, keiner Sittlichkeit, keiner Verschuldung etwas weiß, das Unausgesprochene doch ausdrückt, was die Berichtigung alles Seyns im denken, im fühlen, im handeln, ausmacht, nach ganz anderen Gesetzen als denen, die unserm Bewußtseyn offen daliegen.

Darum gefällt mir eben diese Unconsequenz, dieses ganz unmotivirte nach Außen hin, dieß oft zerrissene, haltlose, das Abweichende von aller Form, selbst der Schönheit in dem Sinne, wie wir die Schönheit verstehen müssen, mit dem Recht u der Wahrheit verbunden. So angesehen fällt der Gedanke alles Lebens wieder mit der schuldlosen Schuld der Alten zusammen: diese tiefere Mystik alles Daseyns geht durch alle Geschichte, u es auf die Weise in Wort u Gestalt zu bringen konnte eben nur das Werk einer Zeit seyn, wo das Formlose, Traumartige einerseits, u die große Gegenständlichkeit, die in allen Bestrebungen lag, wieder anderseits eine Kraft der Seele hervorrief, die nicht unsre Begeisterung ist (wie wir das Wort verstehen), sondern eine gewisse Brut-Wärme des Geistes, in der ganz wunderbare Lebenskeime der Wahrheit liegen.

Brief an Friedrich v. Raumer (Februar/März 1945)
in: WAHRHEIT DER SEELE – IDA VON LÜTTICHAU, Ergänzungsband‘ (Berlin 2015. Seite 176)

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