Sándor Ferenczi: INFANTIL-ANGRIFFE! – ÜBER SEXUELLE GEWALT, TRAUMA UND DISSOZIATION

First edition of all trauma-related lectures and notes of Sándor Ferenczi (in German), download for free (pdf). – Première édition de toutes les conférences et notices de Sándor Ferenczi (en allemand) liés au traumatisme, à télécharger gratuitement (pdf).

1896 formulierte Sigmund Freud den Zusammenhang gewisser „schwerer neurotischer Erkrankungen“ mit unangemessenen (traumatischen) „sexuellen Erfahrungen am eigenen Leib, (…) geschlechtliche(m) Verkehr (im weiteren Sinne)“ im Kindesalter, initiiert durch Erwachsene. Im Jahr 1905 distanziert er sich erstmals öffentlich von seiner (damals sogenannten) „Verführungstheorie“. Die Möglichkeit folgenschwerer sexueller Traumata im Kindesalter wurde von nun an in der psychoanalytischen Therapie konsequent vernachlässigt, teilweise sogar geleugnet.

Als einziger Psychoanalytiker um Freud versuchte der ungarische Arzt Sándor Ferenczi (1873-1933), diese verhängnisvolle Weichenstellung der psychoanalytischen Theorie zu verhindern. Ferenczi fühlte sich aufgrund seiner Erfahrungen mit bestimmten PatientInnen gezwungen, zurückzukehren zu Freuds Annahmen von 1896 und von dort aus neue theoretische Konzeptionen und therapeutische Methoden zu suchen. Schrittweise bilden sich seine Erkenntnisse und Erfahrungen zum Problem früher Realtraumatisierungen in seinen letzten Lebensjahren ab in mehreren Veröffentlichungen sowie in seinem privaten Klinischen Tagebuch und einzelnen Notizen.

Etliche Fallvignetten und Reflexionen in den hier dokumentierten Vorträgen und privaten Notizen lassen den Schluß zu, daß unter Sándor Ferenczis frühtraumatisierten PatientInnen Betroffene mit Borderline-Syndrom, Dissoziativer Identitätsstörung (DIS) und DDNOS waren. Es wird deutlich, wie er das Prinzip der traumabedingten Dissoziation aus seinen therapeutischen Erfahrungen mit in der Kindheit sexuell traumatisierter Patientinnen heraus verstehen lernt. Nach Pierre Janet (und Freud in jener allzu kurzen Episode ab 1896) scheint Ferenczi tatsächlich weltweit der erste gewesen zu sein, der konsequent und stringent das Wesen von Psychotrauma und den therapeutischen Umgang damit erkundet hat!

In seinem hier auszugsweise dokumentierten Spätwerk beruft Ferenczi sich auf die Grunderfahrungen von Güte, Authentizität, Bescheidenheit und Takt. Damit legt er den Grundstein zu einer intersubjektiven Haltung, einer Zwei-Personen-Psychologie, im Gegensatz zur bis dahin in der Psychoanalyse vorherrschenden Ein-Personen-Psychologie.

Sándor Ferenczi, der allzu lange verdrängte bedeutende psychotherapeutische Praktiker und Theoretiker, wird zunehmend wieder-, in mancher Hinsicht erstmalig entdeckt. Wissenschaftliche Institutionen und Publikationen widmen sich Ferenczis psychoanalytischem Vermächtnis (keineswegs nur traumabezüglich). Im Mai 2015 fand eine Internationale Ferenczi-Konferenz (mit dem Schwerpunktthema Trauma) in Torono (Kanada) statt.

Aus gutem Grund hatte traumatherapeutische Forschung und Praxis sich zunächst längere Zeit relativ weit weg von der Psychoanalyse entwickelt. Die Lektüre der hier dokumentierten Arbeiten Ferenczis ruft vielleicht nicht nur bei mir etwas von dem Abenteuer Psychoanalyse wach. Und macht neugierig auf Beiträge der neueren psychoanalytisch begründeten Forschung und Praxis zur Traumatherapie – auch, aber nicht nur auf Grundlage der Arbeit Sándor Ferenczis.

Das in 125 Jahren psychoanalytischer Forschung und Praxis gewachsene Verständnis für die psychodynamische Vielfalt und Komplexität des Menschen (zumindest in unserer Zivilisation) und insbesondere die damit verbundene entwicklungspsychologische und beziehungstherapeutische Kompetenz kann sich heutzutage austauschen mit den Forschungsergebnissen, den Konzeptionen und therapeutischen Erfahrungen der neurophysiologisch-eklektischen Psychotraumatologie, vor allem im Hinblick auf schwerste Traumatisierungen, sowohl im Kindesalter (familiär oder durch Fremde, mit den Folgen der Strukturellen Dissoziation der Persönlichkeit ) als auch bei Akuttraumatisierungen Erwachsener. Sándor Ferenczis therapeutische Aufmerksamkeit ging jedenfalls in beide Richtungen.

Die hier vorliegende erstmalige Zusammenstellung aller traumatherapeutisch relevanten Arbeiten Sándor Ferenczis möchte bescheiden beitragen sowohl zur derzeitigen Neuentdeckung dieses Mitbegründers der Traumatherapie als auch zum Brückenschlag zwischen psychoanalytischer Traumatologie und Psychotraumatologie.

Die Ausgabe enthält auch den bekannten Aufsatz „SPRACHVERWIRRUNG ZWISCHEN ERWACHSENEN UND DEM KIND“ sowie Einführungen des Herausgebers Mondrian v. Lüttichau auch zu den einzelnen Texten.

Hier der Link zum pdf:

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Liane Michauck & Co. / Mondrian v. Lüttichau: TAGEBUCH EINER DIS-THERAPIE

Diese Veröffentlichung dokumentiert den therapeutischen Weg einer Überlebenden schwerster Psychotraumatisierungen mit DIS (Dissoziative Identitätsstörung/ Multiple Persönlichkeit) in den Jahren 2006–2010 mit dem Dipl.-Sozialpädagogen Mondrian v. Lüttichau.

Bei einer psychotraumatologisch orientierten DIS-Therapie liegt die Aufmerksamkeit auf strukturellen und neurophysiologischen Gegebenheiten (traumatische Dissoziation, innersystemische Funktionen, Konditionierungen, Mind Control). Daneben setze ich (MvL) auf die bewegende Kraft der mitmenschlichen Beziehung; das scheint mir nahezuliegen bei KlientInnen, die vollständig über einzelne Teilpersönlichkeiten („Ichs“) mit unterschiedlichem subjektivem Lebensalter und unterschiedlichen Lebenserfahrungen organisiert sind. Therapeutische Grundhaltung war es, die dissoziativen Anteile/Persönlichkeiten/Ichs bedingungslos ernstzunehmen als Gegenüber, mit ihnen weitestmöglich in Ich-Du-Beziehung (Buber) zu gehen und gleichwohl nie die Orientierung an der Wahrheit des Ganzen, des Systems, der Klientin zu verlieren – und diese Orientierung im Austausch immer neu in angemessener Weise zu konkretisieren.

Als ich Liane Tjane Michauck im September 2006 kennenlernte, waren zumindest die erwachsenen Anteile mehr oder weniger lebensmüde im tiefsten Sinne. So viele Jahre hatten sie um ihr eigenes Leben, um Gesundheit gekämpft, so viele Jahre Therapie, eigenes ehrenamtliches Engagement, Leben als berufstätige alleinerziehende Mutter – und noch immer Ängste , Panikattacken, Suizidalität, Perspektivlosigkeit, dazu die zunehmenden somatisch-medizinischen Probleme.

Es wird beim Lesen wohl nachvollziehbar, wieso DIS-Therapie mit möglichst allen Anteilen unabdingbar ist, da sämtliche Anteile nicht nur eigene traumatische Erinnerungen bewahren, sondern zugleich unverzichtbare Ressourcen zur Heilung tragen. Bei der damals fast chronisch suizidalen und krisengeschüttelten Klientin wäre die Therapie ohne das stabile lebenszugewandte Potential der Kinderpersönlichkeiten nicht möglich gewesen! Beziehungsmäßiger Kontakt mit Kinderanteilen bedeutet also keineswegs eine Art Bemutterungsposition; selbst „kleine“ kindliche Anteile sind ernsthafte TherapiepartnerInnen, die auf ihre Weise mitarbeiten wollen und können und eigene therapierelevante Ressourcen haben. Zudem stehen innere Ressourcen und entwicklungspsychologische Kompetenzen bei den Anteilen eines multiplen Systems bis zu einem gewissen Grad wechselseitig unterschiedlichen Anteilen zur Verfügung. Dies scheint plausibel, da es in der traumatischen Vorgeschichte meist keine Notwendigkeit gab, diese Freiheitsgrade amnestisch abzuspalten. Erfahrungen mit „Außenkindern“ können nur sehr bedingt Vorbild sein für den Umgang mit dissoziativen Kinderanteilen.

Eine sogenannte „Alltagspersönlichkeit“ („Gastgeberpersönlichkeit“) ist erstmal nichts anderes ist als ein Anteil von mehreren, also nichts systemisch Übergeordnetes. Welche strukturell bedingte Ressourcen derjenige Anteil hat, der in der Vorgeschichte vorrangig den Alltag organisiert hat, muß innerhalb der Therapie erst geklärt werden. Die strukturelle (systemische) Innenfunktion eines dissoziativen Ichs kann sehr differieren von ihrer Funktion in der sozialen Außenwelt.

Die üblichen Bereiche einer Traumatherapie sind Stabilisierung, Traumakonfrontation und Traumaintegration. Bei Betroffenen mit DIS oder DDNOS ist die therapeutisch angeleitete Weiterentwicklung (Umstrukturierung) des Persönlichkeitssystems ein hierzu gleichwertiger Bereich, keine Nebensache, die „sich von selbst versteht“. Dabei geht es um Psychoedukation für die einzelnen Anteile, Co-Bewußtsein, Altersprogression, -regression, Fusion von Anteilen, das Unterscheiden einzelner Funktionen, Erkennen von Täterintrojekten und Kontaktaufbau mit ihnen, Konditionierungen, Mind Control. Deutlich wird die Relevanz dieser „DIS-Therapie“ (im Rahmen einer Traumatherapie) auch in vielen alltagsbezogenen Momenten, für die einzeln (und mit den unterschiedlichen Teilpersönlichkeiten) Brücken gebaut werden müssen zwischen der traumabedingten theory of mind und gesünderen Empfindungen, Konfliktlösungsmethoden, nicht zuletzt: der banalen gesellschaftlichen Realität. Deutlich wird das extrem labile seelische Gleichgewicht – nicht aufgrund eines bestimmten Störungsmusters, sondern aufgrund vieler Faktoren (mit unterschiedlicher Genese), die situativ ausgeglichen werden müssen. Auch die Heilungsfortschritte liegen wechselseitig in all diesen Faktoren; es ist wie ein Bäumchen wechsle-dich, bei dem Ressourcen und Möglichkeiten sich überall verstecken können und vom Therapeuten/der Therapeutin dort angesprochen und gestärkt werden müssen.

Solches Flottieren von Persönlichkeits- und Entwicklungsmomenten zwischen Anteilen (bzw. „Ego States“) findet sich grundsätzlich genauso bei Menschen ohne DIS, nur wird es dort bei konventioneller Sozialisation (bzw. Psychotherapie) ausgerichtet am Ideal eines widerspruchslosen „erwachsenen Ich“.

Unser therapeutischer Weg macht vielleicht nachvollziehbar, wie gerade der vorbehaltlose Ich-Du-Kontakt mit möglichst sämtlichen dissoziativen Teilpersönlichkeiten die Motivation zur zunehmenden Innenkooperation stärken kann. Allerdings bleibt dies eine ständige Gratwanderung, bei der die Orientierung auf das Ganze durch die therapeutischen HelferInnen immer neu ins System eingebracht werden muß! Andernfalls würden die speziellen Einzelbedürfnisse der Anteile an einen Beziehungskontakt überwiegen (mütterliche/elterliche Zuwendung, Schutz, leibliche Nähe, Orientierung an bestimmten Lerninhalten, Wunsch nach kindgerechten SpielgefährtInnen, Täterprojektionen, Ausagieren von Erfahrungen mit destruktiver Sexualität, Sehnsucht nach selbstbestimmter Sexualität).

Vorstellbar wird auch das sehr organische und individuelle Heilewachsen einzelner Anteile, das allerdings viel Realzeit erfordert. Derart umfassender, ausdifferenzierter Austausch mit den dissoziativen Ichs läßt sich mit der Zeitökonomie einer kommerziellen Psychotherapie meist nicht vereinbaren. Dieses Therapietagebuch könnte immerhin dazu beitragen, Betroffenen, Angehörigen und HelferInnen die konkrete Beziehungsdynamik zwischen Traumaüberlebenden mit DIS und HelferInnen affektiv vorstellbarer zu machen, als es Fachbücher oder nachträglich verfaßte autobiografische Berichte von Betroffenen vermögen.

(Aus dem Nachwort)

Hier ist der Link zum pdf: https://autonomie-und-chaos.de/images/pdf/auc-141-michauck-therapie.pdf

Mondrian Graf v. Lüttichau: DISSOZIATION. TRAUMA. RITUELLE GEWALT (2020)

Hinweise für Betroffene und HelferInnen

Erster Teil: Grundlagen

  • Trauma in Kindheit und Jugend
  • Was ist das eigentlich – Traumatherapie?
  • Strukturelle Dissoziation
  • Borderline-Syndrom
  • Dissoziative Identitätsstörung (DIS)
  • Persönlichkeitsanteile, Dissoziation und Trauma: Hintergründe und Zusammenhänge
  • Organisierte sexualisierte/rituelle Gewalt und Mind Control

Zweiter Teil: Probleme und Ausblicke

  • Traumatherapeutische Heilpädagogik bei einer kognitiv schwer beeinträchtigten Frau
  • Wieso viele Opfer von ritueller Gewalt keine Hilfe suchen
  • Psychose, Dissoziation und Trauma
  • Mutismus als Traumafolge
  • Über das Leugnen von DIS, Organisierter ritueller Gewalt und Mind Control
  • Sándor Ferenczi – ein früher Traumaforscher
  • Die Wurliblume. Kein Unterhaltungsroman
  • Johanna Herzog-Dürcks Personale Psychotherapie als Element integrativer Traumatherapie?

Hier der Link zur kostenfreien online-Publikation beim VERLAG AUTONOMIE UND CHAOS BERLIN !