Er ist da, ehe die Bäume ausschlagen. Während noch im Gebirge die Rodelschlitten fliegen, draußen auf dem ebenen Lande gerade das Tauen beginnt, schwimmt Berlin schon im geschmolzenen Schnee, in Sonnenschein und Frühlingslust. Wie herrlich sind die Pfützen auf den Straßen! Sie spiegeln Licht und schmale Frauenschuhchen, sie spritzen sprühend auf unter Autorädern und Pferdehufen, sie versetzen das Himmelblau auf die Straße; zwischen zwei Himmeln wandelt man. Wie schön, wie glückspendend sind die Frühlingspfützen auf den Straßen!
Alle sozialen Probleme sind gelöst: das Glück ist leibhaftig über die Menschen gekommen. Die Armen, Verkommenen, Elenden scheinen zu lächeln, da Sonne ihr Gesicht verklärt – nach dem bitterlichen Frost, dem Nebel, der Winterdämmerung so vieler Monate. Die Straßenkehrer sind fix und froh geworden, rufen sich allerlei zu, womit sie sich zum Lachen bringen wollen. Die Damen lassen ihre Boas und Pelzschals anmutig über die Schultern gleiten, lassen Schmuck werden, was so lange nur Schutz war, sie heben ihre Röcke, und entzückt sieht man wieder den ersten Florstrumpf, durch den der Glanz des schlanken Beines bricht. Sie rennen nicht mehr, die Fräulein, um sich warm zu laufen, sie schwanken nicht mehr auf Glatteis, sie trippeln wieder, zögernd, schlendernd, sie stehen sinnend am Straßenbord und überlegen, wie über die Pfütze hinüberkommen; sie machen einen reizenden kleinen Sprung – und die Pfütze spiegelt das Herrlichste von allem; der Himmel verdunkelt sich darüber.
Über Nacht hat eine Auferstehung stattgefunden. Statt vermummter, unförmiger Gestalten wieder schlanke, ranke Figuren, erhobene Köpfchen; die jungen Herren im leichten Ulster, die ersten Halbschuhe an den Füßen, den Schnurrbart nicht mehr bereift, das Stöckchen in der leicht bekleideten Hand. Die Straßenbahnführer sind wieder Menschen, es steht kein Ungeheuer in Pudelfellen und -mützen mehr am Steuer. Und drinnen im Wagen wird man nicht mehr als fühlloses Stück Gefrierfleisch behandelt, nicht mehr blickt man mit tödlichem Haß auf die Bevorzugten, die über der Heizung sitzen; wenn man auch die Beine hochhalten muß, um nicht im Morast stecken zu bleiben, den jeder neue Fahrgast mit hereinschleppt – die Sonne blitzt doch in die Scheiben, sie wärmt den Rücken, macht so menschenfreundlich – man ist wider Willen glücklich. Aber der leibhaftige Frühling, der blühende duftende Lenz, ist doch nur am Potsdamerplatz. Da stehen in langen Reihen, vom Bahnhof bis zur Wertheimhalle, wo der Bärenbrunnen wie ein Frühlingsbächlein plätschert, die Blumenfrauen von Berlin. Ruinen schöner Festungen, deren einstige Bestimmung die unaufhörliche Übergabe war, Reste einer glänzenden Vergangenheit, einst die Dekoration der Friedrichstraße, jetzt Girlande vom Bahnhof zu Wertheim, stehen diese Frauen da, auf ihrem Bauch schaukelnd einen langen Korb, aus dem der Frühling quillt. Sie, geboren zur Vergangenheit, sie, die Frauen ohne Zukunft, sind die Gevatterinnen des Kommenden. Sie sind alt, stumpf, trocken, die Ehrenjungfrauen des Frühlings, seine Bannerträgerinnen, seine Herolde. Sie verkünden seinen Reichtum, Duft und Glanz. Sie schwingen Mimosensträuße und Tulpenbündel, Veilchentuffs und Maiglöckchenstengel, Anemonen und Ranunkeln, römische Narzissen und neapolitanischen Zwiebelblüten. Eine tagtäglich erneute, nie welkende Girlande stehen sie da, Korb an Korb, Beet neben Beet, schwankend wie im Föhn, Duft verbreitend, Hoffnungen weckend, Glück spendend. Über ihnen schaukeln die noch nackten Äste der alten Kastanien und Rüstern, noch steigt der Saft in ihnen nicht hoch, noch ist Café Josty nicht umgrünt, die Normaluhr noch nicht umwallt von Flieder und Rotdorn, aber unter ihnen blüht es schon wie in den Gärten von Cannes, an den Abhängen von Santa Margherita, auf den Hügeln von Florenz
Und noch ein untrügliches Zeichen gibt es für den Anfang des Frühlings in Berlin: wenn in den „Zelten“ das erste Gartenkonzert exekutiert wird. Wenn nur die Sonne scheint – mag es draußen noch so naß und windig sein , da konzertiert schon im Pavillon die schwarze Musikantenschar, und an den Tischen sitzt, gut verpackt, die Menge der Vorstadtdamen, jung und alt, bei Kaffee und Bier. Gefällige Gatten, Brüder, Bräutigams tauchen hier und da auf, und draußen vor dem Gitter, am Tiergarten entlang promenieren die, die Musik im Gehen zu genießen lieben. Das ist der erste Frühlingssonntag in Berlin! Mag nun noch einmal Schnee und Frost kommen: der Frühling ist da! Er blüht am Potsdamerplatz, er ist feierlich in den „Zelten“ unter Musikklängen proklamiert worden. Schon nimmt der nächtliche Tiergarten die ersten Liebespaare auf, klingen von heimlichen Bänken zärtliche Seufzer. Schon verlassen die Möwen die Charlottenburger Schleuse, der Neue See ist aufgetaut, statt Schlitten werden Boote instand gesetzt. Wie lange noch, und um acht Uhr abends werden die Bahnen gestürmt und Grunewald und Treptow erstrebt; wie lange noch, und der erste Strohhut taucht in der Tauentzienstraße auf, die erste Berlinerin geht „per Taille“ zu Wertheim, die Frau Konmmerzienrat kehrt aus Nizza zurück und findet, daß Berlin in schönerem Frühling schwelgt!
Denn nicht überall ist der Frühling so herrlich wie in dieser Stadt. Überall sonst kommt er langsam, Tag für Tag eine Knospe mehr, eine Nuance heller, ganz vorsichtig, zögernd, verschämt. Aber in Berlin bricht er über Nacht herein, fällt mit Musik und Blütenüberschwang nieder, kommt ungeduldig, viel zu früh, halb erfroren, in Gefahr, sich noch einmal verstecken zu müssen. Nur in Berlin funkeln mit einem Schlage ungezählte Millionen Fensterscheiben, blühen Millionen Menschen auf, entstehen zahllose Lenzgedichte und Feuilletons. Berlin ist ja so jung, so schnell, so ungeduldig; es kann nie warten; unreif pflückt es die Früchte, nimmt den Frühling im Februar vorweg, kommt zu früh heraus mit seiner Premiere wie ein ungeschickter Direktor. Aber muß man diese ungeduldige Jugend nicht lieben? Ist diese junge, rasche, überschäumende, mutwillige Stadt nicht schön, liebenswert, – würdig, besungen, verherrlicht zu werden? Und wenn erst wirklich die Kastanien am Landwehrkanal ihre grünen Finger mit den weißen Kerzen ins stille Wasser tauchen, die Schwäne im Mondschein um die Rousseau-Insel gleiten, im Bogenlampenschein die Leute auf der Terrasse von Josty sitzen und über die Zoo-Mauern die Arien Toskas und Musettes zu den Liebenden in den Tiergarten hinüberklingen, ist dann Berlin nicht selbst ein Gedicht von Jugend, Lenz und Liebe?
Erstveröffentlichung in: Kurt Münzer: ‚Unter Weges‘ (München 1921), wiederveröffentlicht bei http://www.autonomie-und-chaos.de in: Kurt Münzer: ‚Bruder Bär. Novellen und Feuilletons'(Leipzig/Berlin 2011) (kostenloses e-book).