Ida von Lüttichau: Über die Ansprüche der Zivilisation (1840)

Eigentlich sind die praetensionen [Forderungen] an Gott unendlich gestiegen: wenn ich mich an meine Kindheit erinnere, wie klagte da Niemand über Wetter, kalte nordische Sommer; man wußte, daß man eben kein italisches Clima habe u. sehnte sich nicht danach; die Jugend war frisch oder krank, wie es eben kam, das Alter kränklich, wie es die Zeit mit sich bringt, u keinem fiel ein, viel dabey thun, ewig an sich ausbessern zu wollen. Wir verlangen jährlich Brunnenkuren, dazu das Wetter, was wir uns jedesmahl passend bestellen möchten; wir wollen das Alter hinausrükken, als wenn Jugend oder Anschein davon zur civilisation u cultur gehörte, kurz alle unsre Anforderungen sind ungeheuer gestiegen.
Mit dem generalisiren, dem ungeheuren cosmopolitismus verlangen wir die Vortheile aller Nazionen, aller Zonen, kurz die aller verschiedenartigsten, sich selbst wiedersprechendsten Zustände.
Wie der Geist durch die civilisation das Alles in sich aufgenommen hat, soll es auch wo möglich die äußere Existenz wiedergeben, u. daher natürlich die Unzulänglichkeit u. Unersättlichkeit, die gar sich nicht einmahl als falsche Begierde erscheint, nein – nur wie ein Riese mehr verzehrt wie ein Andrer, so bedarf unser Geist u. unser Sehnen noch mehr als bisher in der Wirklichkeit vorhanden war. Alle neuen Erfindungen streben diesem auch nach, u. erreichen es gewissermaaßen, aber wir wollen immer weiter u. merken nicht, wie viel wir schon gewaltsam der Natur fast über das Maaß hinaus abgedrungen haben.

‚Wahrheit der Seele – Ida von Lüttichau (1896-1956)‘ (Ergänzungsband, Berlin 2015; Seite 100/1)

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