Stolpersteine für Max und Lydia Gusyk

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Max gusyks eltern leon und diana (geb. kawan) lebten zunächst in der kleinstadt wilkowischky im russisch besetzten „kongreßpolen“. Wegen der antisemitistischen pogrome zog die familie 1911 in den westen, nach gräfrath bei solingen, wo der vater eine besteck-fabrik kaufte. Da er in konstantinopel geboren war, was in seinem paß vermerkt war, konnte er 1913 für sich und seine familie die osmanische/türkische staatsangehörigkeit beanspruchen, um anti-jüdischen und anti-russischen ressentiments zu entgehen.
Im oktober 1918 starben diana gusyk sowie der 16jährige sohn paul (maxens zwillingsbruder) an der spanischen grippe. Leon gusyk gab die fabrik auf und ging nach berlin. Max und rebekka (geboren 1899) zogen zu ihrer älteren schwester jenny nach köln.
Jenny gusyk (geboren 1897) studierte in köln (als erste frau) betriebswirtschaftlehre und wirtschaftsgeschichte. Anschließend zogen sie, max und rebekka zu Ihrem vater nach berlin.
Über max gusyk und dessen ehefrau lydia ist bisher wenig mehr bekannt als die angaben aus den deportationslisten der nazis.
Jenny arbeitete als buchhalterin, heiratete den kommunistischen journalisten karl stucke. Am 27. 11. 1927 wurde ihr einziger sohn thomas geboren. 1933 wurde karl stucke in ein konzentratiopnslager gesperrt, 1939 erfolgte eine erneute verhaftung und verschleppung ins KZ sachsenhausen. Karl stucke starb dort am 14. 1. 1940. Damit verlor jenny alle etwa noch möglichen rechte aus dieser „mischehe“. Sie tauchte unter, blieb aber in berlin, wahrscheinlich aus Sorge um den vater, der erst im januar 1943 im altersheim der jüdischen gemeinde in berlin starb, während rebekka 1942 mit einem ausreise-visum über frankreich und portugal in die USA ausreisen konnte. Nach einer denunziation wurde sie im juni 1943 in das gestapo-gefängnis prinz-albrecht-straße gesperrt. Nach einigen verlegungen wurde sie, wie vorher ihr bruder max und dessen frau lydia, nach auschwitz deportiert, wo sie am 2. 1. 1944 ermordet wurde. Ihr sohn thomas überlebte in berlin dank der hilfe von freunden seines vaters. Er reiste im oktober 1946 zu seiner tante rebekka nach new york aus.
An ihrer letzten wohnadresse in solingen (wuppertaler staße 36) wurde ein STOLPERSTEIN für jenny gusyk verlegt.
Im mai 2012 wurden auch für max und lydia gusyk STOLPERSTEINE an deren letzter adresse in berlin (hirschgartenstraße 2) verlegt. Am nächsten tag waren die blumen beiseitegeworfen und die stolpersteine zweifellos willentlich mit erde verschmiert und heftig zerkratzt.

Das berliner Stadtschloß

Das Berliner Stadtschloß

Vorgängerbauten gab es auf diesem gelände seit 1443. Bei bombenangriffen brannte das schloß am 3. februar 1945 weitgehend aus. Außenmauern, tragende wände und treppenhäuser blieben erhalten. Bis 1949 wurden teile des schlosses genutzt. September bis dezember 1950 wurde das berliner stadtschloß abgerissen. – –
Seit 1991 lief in berlin eine heftige debatte um den wiederaufbau. Inzwischen ist die entscheidung gefallen – das berliner stadtschloß wird wiederaufgebaut. Ein stück fassade steht bereits; derzeit werden die historischen kellergewölbe des schlosses archäologisch untersucht.

Ich hatte ursprünglich keine meinung zu diesem projekt. Als ich damals vor dem trümmerberg der dresdner frauenkirche stand.. daneben schon die stahlregale mit katalogisierten mauerstücken.. und als ich dann bilder vom inneren der früheren kirche sah, war ich ganz und gar für jenen wiederaufbau. Nur durch spenden finanziert! So viele menschen haben dann daran mitgewirkt! So viel technik – wurde diesmal nicht zum geldverdienen oder krieg machen eingesetzt, sondern um ein kleines moment von menschengemachter schönheit wieder zu heilen..
Nein, es hat keinen einzigen menschen wieder ins leben gerufen, der in diesem krieg umgebracht wurde. Ja – mit diesem geld hätten heute lebende menschen unterstützt werden können. Trotzdem.. auch gut gemeint kann es nicht ständig nur um „geld“ gehen.

Und jetzt.. das berliner stadtschloß? Nochmal um spenden trommeln (werben), viele millionen euro?
Und das schloß ist ja nun wirklich nicht zuletzt ein machtsymbol. Ist ja nun definitiv gebaut worden nicht für das volk, sondern von wenigen – mit den ressourcen des volkes!
Aber je öfter ich da rumlaufe, am alex, zwischen zeughaus und hedwigskathedrale, um die ecke das bühnenbild der bauakademie (auch sie soll wieder aufgebaut werden, ein sponsor wird gesucht!), gegenüber die neue wache, das alte museum, die museumsinsel.. – zwischendrin die figuren auf der schloßbrücke.. – – immer öfter stell ich mir das schloß vor und wie das dann wäre.
Anders, aber doch ein bißchen so wie auf dem foto hier oben..

Den kiez um den alex hatte ich immer als das herz von berlin empfunden, auch schon zu westberliner zeiten, – und das hat sich nicht geändert. Ich laufe kreuz und quer, die touristen stören überhaupt nicht. Es ist ein völlig anderes klima als im westen, um die gedächtniskirche, am kudamm! Dort hetzen auch die touristen von laden zu laden, – hier promenieren sie, staunen und träumen und sind doch ziemlich froh. Jedenfalls kommts mir so vor!

Doch, ich bin jetzt für den wiederaufbau des stadtschlosses. Ausm bauch raus, – ohne rationale argumente. Trotz der rationalen argumente, die es nach wie vor dagegen gibt.

Beim FÖRDERVEREIN BERLINER SCHLOSS e.V. (www.berliner-schloss.de) gibts eine fülle von informationen; es gibt ein mitteilungsblatt (Berliner Extrablatt) und davon eine sonderausgabe zur geschichte des schlosses und der diskussionen zum wiederaufbau, mit vielen fotos (eines davon hier oben!). Und es gibt die schreiend deplacierte HUMBOLDT-BOX auf dem gelände des schlosses, in der noch mehr infos zu finden sind. (Die soll deplaciert wirken!)

Kurt Münzer – Abendrot in Berlin, vor 1910

In der lichtlosen Dämmerung zwischen Tag und Nacht, in dieser Stunde des einbrechenden Abends, wo das Licht des Tages versiegt ist und die Dunkelheit der Nacht noch zögert, wo die Laternen und Bogenlampen als ein Stück leblosen Glanzes in der Luft schwimmen und die Lichter der Schaufenster, die hellen Flächen hoher Glastüren noch ohne Kraft und Helligkeit leuchten, in dieser Stunde standen die Bäume in der Stadt da wie erstarrte angstvolle Träume, wie die versteinerten Gebilde einer von Furcht überwältigten Phantasie.

Michael Munk ging die Linden hinab, dem Schlosse zu. Wolkenhafte Massen, lagen die großen Gebäude da unter einem umdunkelten Himmel. Drüben rang sich die helle runde Uhr des Rathausturms wie ein tiefstehender Vollmond durch die Dämmerung. Aus dem Vorhof der Universität glänzte das weiße Denkmal zwischen den dunklen Baummassen, und aus der hellen Tür dahinter drängte sich ein schwarzes schwerfälliges Gewimmel von Menschen. Die Figuren auf der Schloßbrücke schimmerten bläulich, von der Dämmerung umwogt, daß sie sich leise zu bewegen und die sterbenden Jünglinge aus den zärtlichen Armen zu gleiten schienen.

Michael ging rechts am Ufer hin, der Platanengruppe zu, durch die kurzen, stillen und wie vom Leben vergessenen Gassen. Dort schwang sich der Schwibbogen über die Straße, ein schöner Rahmen für das Bild dahinter: Menschen und Wagen, langsam bewegt, und hinten dunkle Bäume, in die Tiefe geglittene glanzlose Laternen, ein mächtig vorspringendes Gesims, eine Säulenreihe.

Und als sich der Wanderer wieder in die Stadt hineinwandte, an Straßen vorbei, die sich nach dem Westen öffneten, sah er dort weit hinten über der Stadt noch den Sonnenuntergang.

Durch die klaffenden Spalten eines dräuend bewölkten, wild zerrissenen, schrecklich gestörten Himmels flossen wie aus jenseitigen Vulkanen Feuerströme und Glutfluten auf die Erde hinab. Ihren weit aufgerissenen Schlund des Ausbruchs formte bald eine sanfte wogende Linie, bald umrahmten ihn starrende Zacken und Spitzen. Und der gluterfüllte Krater floß über, flüssiges Feuer tropfte aus seinemn klaffenden Maul, sammelte sich weiter unten zu einer blutigen Pfütze, die sich ausdehnte, die schrecklich wuchs, genährt von unsichtbaren unerschöpflichen Quellen, zu Teichen und Seen, zu einem roten lohenden Meer, das den Himmel, die Erde überschwemmte. Oder der Krater riß plötzlich und ein glühender Lavastrom floß einen unmeßbar weiten Weg hinab über den braunen Rücken des Feuerberges, erklomm einen benachbarten Vulkan, vereinte sich mit neuen entgegenstürzenden Feuerflüssen zu Vernichtung und Untergang von Welten. Aber plötzlich beruhigte sich der Himmel, und ein sanfter Bergzug, eine süße Linie auf- und abschwingender Gipfel hob sich blaß und abendlich rein, von Goldlinien umzogen und mit goldenen Schatten geschmückt, vom roten Grunde ab. Oder es war der kühne Zug hoher Alpen, deren Zacken glühten und deren Grate loderten, als erhitzte sie, die eisernen Gefüge, ein unterirdisches vulkanisches Feuer zu einer Apotheose der Erdschöpfung. – Und dann war es ein erstarrter Reigen überirdisch großer Gestalten, die die Stadt einsäumten, mit zusammenfließenden Gewändern, die rote Schärpen von Meilenlänge und grüne Wimpel von unendlicher Fläche in regungslosem Kranze hielten, und die goldenen Schleier ihrer Häupter starrten unbewegt in die Luft.

Und all dieses Rot und Gold durchglänzte die stauberfüllte, dicke Luft der Straßen, weckte in den Fenstern einen roten Glanz, ein blendendes Funkeln auf, ließ die Straßen sich verlieren in einen glühenden Rauch, in bengalisch beleuchteten Dampf, der wie Theaterzauber aus Spalten im Boden aufzuquellen schien, der die Vedute des Straßenbildes abschloß und märchenhaft, traumgleich die rauchende, lärmende Stadt in eine stille, duftige Feenwelt aufzulösen schien. Mit tausend Fenstern flammten die Warenhäuser auf und wurden zu festlich erleuchteten Schlössern. Aus den Cafés klangen die ersten süßen schmachtenden Geigen, Häusertürmchen verwandelten sich in Minaretts, über die Menschen fiel die heitere Verkleidung des Abends, wie eine Welle hob sich das Leben auf.

Kurt Münzer: Kinder der Stadt. Roman (Berlin 1910, S. 350-352)

Das Wunder und der Schrecken, ein Mensch zu sein (II)

Menschen, die mich nicht kennen, denen ich mich in keiner weise nah fühle, wollen eine sexuelle beziehung mit mir – und andere, die mir manchmal über jahre hinweg nahe sind (und ich hätte gedacht, es sei auch andersrum so, aber vielleicht ist es das ja auch, dennoch!), können sich sowas überhaupt nicht vorstellen.
In aller selbstverständlichkeit wird akzeptiert, wenn frauen den engeren kontakt mit einem mann verweigern, wenn der nur am sex interessiert ist – sobald aber ich (neuerdings) engere kontakte verweigere, in denen eine frau nur intellektuellen austausch will mit mir („guter freund sein“ heißt das dann), wird mir unterstellt, ich sei nur auf das sexuelle aus.
Schon öfters mußte ich mir anhören: „Ich brauch doch nicht gleich mit dir ins bett zu gehen, wenn wir uns so vom reden und nachdenken her nahe sind – wenn du dir sowas erhofft hast, ist das doch dein problem!“ Andererseits wäre die empörung groß, wenn ein mann einer frau erklären würde: „Ich brauch mich doch nicht gleich auf dein nachdenken und so einzulassen, wenn wir sex haben miteinander! Wenn du sowas willst, ist das doch dein problem!“
Muß ich das verstehen?

Als ich ’ne halbe stunde oder so auf der bank unten im U-bahnhof kleistpark sitze, bei wein und zeitung, kommt ein ganz eigener lebensrhythmus in mein gefühl:
– rausch, stürm – „Kleistpark!“ – getrappel – „Zurückbleiben!“ – rausch, stürm – – rausch, stürm – „Kleistpark!“ – getrappel – raus, stürm – „Kleistpark!“ – getrappel – rausch, stürm – „Zurückbleiben!“ – – rausch, stürm – „Zurückbleiben!“ – rausch, stürm – –

Sauberkeit in der natur ist funktional, ist moment von ökologischem gleichgewicht – ist ordnung, planmäßigkeit, stoffwechsel, kreislauf, austausch, komplementarität. Hat nix zu tun mit dem, was in der entwickelten zivilisation als „hügeene“ bezeichnet wird (oder so ähnlich).

Von „lesbierinnen“ schreiben sie in den medien; das ist doppelt frauenfeindlich und menschenfeindlich! Frauen, die sich grad dadurch definieren, daß sie mit männern nicht so viel zu tun haben, werden mit einem begriff bezeichnet, der als von einem grammatisch männlichen wort abgeleitet dargestellt wird. Dabei ist das ursprüngliche wort bekanntlich die insel lesbos, auf der nächsten bedeutungsebene dann die sagenhafte frauenkommune der dichterin sappho. Nirgendwo hätte da ein wort „lesbier“ sinn! Es kann also nur „lesbe“ heißen, wie es ja tatsächlich üblich ist unter den entsprechenden frauen selbst.

Der chef: „Das touren-legen war ja früher eine heilige handlung – – da hat jeder sein wssen dazu beigesteuert – – daß der weg über tegel nach spandau besser ist, mit der fähre und so.. – Und dann war’s natürlich kein wunder, daß die touren nicht fertig wurden!“
Das kam ganz nebenbei, als wir über neuerungen schwätzten. – Kann es jemand nachempfinden, daß ich einen vorgesetzten anhimmle für solche formulierungen?

Als ich heut morgen nur wenig echtzeit hatte, aber noch lebenszeit gebraucht hätte vor dem weg zur firma, hab ich mich an den tickenden sekundenzeiger der uhr rangehängt, bin für fast drei minuten die sekunden entlang mitgegangen, schritt für schritt – und hatte dadurch so viel zeit in mir drin! Plötzlich wurde alles weit, lachen war in mir, räume, wege voller gedanken und gefühle – die allerdings nicht nach außen hätten kommen können. Es war wie ein blick durch ein mikroskop.

Christiane: „Wo is’n die frau frank – ?!“
Ich: „Wir haben keine frau frank in der firma. Sie müssen sich in der tür geirrt haben. Ein stockwerk höher, bitte!“ (Dort ist nämlich eine behörde und täglich stolpert der publikumsverkehr von denen bei uns unten rein.)
Christiane prustet los, – sowas ist haargenau auch ihre art von humor; sie klappt den mund wieder zu, schließlich ist arbeitszeit – sie wird knallrot, schnappt nach luft, strahlt nur noch: „Meensch!!“ – mit ganz schwacher stimme vor hingerissenheit; sie hebt die arme, stockt für den bruchteil einer sekunde und hält mich dann an beiden schultern ganz kurz fest, drückt mich so, auf distanz – nicht kokett, sondern wirklich überwältigt vor begeisterung! Am liebsten wäre sie, die immer auf umgangsformen bedachte jungverheiratete, mir wohl um den hals gefallen, – nur so.
Ein paar minuten später ruft sie mich an, will irgendwas abklären. Ich fang unterdrückt an zu glucksen.
„Was – was sind denn das für geräusche da im hintergrund, sage mal?!“
„Ach, ich lach bloß noch über meinen gelungenen witz – “
„Welchen denn? – Den hab ich schon längst vergessen!“ (Und auch sie fängt an zu glucksen.)
Das ist christiane. Lieb ist sie und echt, intelligent und lebensfroh, – aber eben auch leicht verletzbar, weshalb sie sich vor konflikten meist in unehrlicher weise drückt. Solche ebenen müssen unterschieden werden bei den menschen, immer neu. Das ist verdammt schwer, manchmal..

Als ich mit einer kollegin (sie ist sannyasi) über den bhagwan (später: osho) rede und mir eine bestimmte formulierung nicht gleich einfallen will, ruft jener EDV-spezialist über zwei schreibtische hinweg: „Tut mal wieder so geheimnisvoll, der herr v. lüttichau!“
Lachend, als witz kaschiert kommt das. Reflexhaft reagieren sie im abwehren, diffamieren, gift versprühen! Mir fällt eine analoge standardbemerkung meiner eltern ein: ich solle mich „nicht wieder so künstlich aufregen“. Wie ich ja auch schon mit 12 jahren als „prinzipienreiter“ galt. Was haben diese leute gegen prinzipien? Sowas rührt wohl an verinnerlichtes kindheitsleid; schließlich haben auch sie als kinder unter prinzipien und normen gelitten, die ihnen eingebleut wurden. Daß sie selbst jetzt, als erwachsene, fast nur noch aus derartigen normen und prinzipien zusammengesetzt scheinen, nehmen sie nicht wahr. Immerhin mögen sie nicht mehr auf prinzipien per se schimpfen, – nur auf ihre angeblich übertriebene benutzung. Vor allem wollen sie selbst keine prinzipien mehr vorgehalten bekommen.
Wie genau sie sprachliche nuancen anwenden können, wo sie die sprache als waffe gegen andere menschen benutzen. Und wie unsensibel sie überall dort sind, wo sprache authentische regungen, individuelle und spontane momente darzustellen versucht..
Diese form von (v)erwachsensein ist identisch mit menschenfeindlichkeit, menschenverachtung, mit bösartigkeit; aber das wollen sie garnicht. Sie können nicht anders, sie sind krank. (V)erwachsensein ist eine krankheit der menschlichen individualität, es ist seelisches siechtum, ist bewußtlosigkeit, amnesie, verhärtung, entfremdung. Fast unheilbar bei denen, die davon befallen sind.
Seit jahren komme ich immer klarer zu dieser einschätzung. Obwohl ich mehr verstehen lerne von dieser mehrheit meiner mitmenschen, sind sie mir noch immer genauso fremd wie damals. Aber inzwischen weiß ich, es gibt eine lebenshaltung, die dieser krankheit entgegensteht. Genauheit, achtsamkeit, lebensmut, liebe, – ja, sowas.

Wer glaubt, in Städten lebten nur Tauben, Spatzen und Ratten, irrt gewaltig. Je größer die Metropole, desto reicher das Leben. Allein in Berlin brüten knapp eine Million Vögel aus 141 Arten, darunter über 100 Pirol-Paare. Das sind mehr als in den Auen am Oberrhein, in den einsamen Wäldern an der Müritz oder im Bergwald des Berchtesgadener Landes. Der Botaniker Wolfgang Kunik zählte allein in der Innenstadt 380 Pflanzenspezies. „Wenn ich einem Kollegen aus Südamerika eine möglichst große Vielfalt europäischer Arten zeigen wollte, würde ich mit ihm nach Berlin fahren“, sagt Josef Reichholf, Biologieprofessor in München und Vorstandsmitglied des World Wide Fund of Nature (WWF). Vier Wildschweinmütter und ihre sechzehn Frischlinge legten kürzlich auf dem Spandauer Damm den Berufsverkehr lahm. „Erst hebeln sie mit der Schnauze die Gartentür aus den Angeln“, berichtet ein Anwohner, „dann pflügen sie unsere Gemüsebeete um.“ – ZEIT 18/96

Eine kollegin verspeist ihren kuchen lagenweise und erzählt, daß sie auch das fleisch zuerst ißt, dann das gemüse und zuletzt die kartoffeln. Christiane berichtet, wie sie im elternhaus eine zeitlang das fleisch bis zum schluß aufgehoben hatte. Worauf ihr vater sie warnte, sie solle nie das beste bis zuletzt aufheben, man wisse ja nie, was kommt, und eventuell komme man garnicht mehr dazu, es zu genießen. Christiane wollte darauf nicht hören; eines tages hat er ihr mit seiner gabel auf den teller gelangt und ihr stück fleisch selbst gegessen.
Überraschte und begeisterte ausrufe. Tiefbefriedigt stößt eine ältere kollegin aus: „Dann haben sie’s aber gelernt, was?“
„Ja, danach hab ich’s nicht mehr gemacht.“
Gelächter in der runde.

So viel SONNE ist tagsüber in mir dringewesen – da sehe ich in einer illustrierten eine filmbildfolge, bei der ein mann zwischen zwei autos gebunden wird und sie reißen ihm den arm ab, – wohl im zusammenhang mit dem krieg zwischen irak und iran. Aber es ist ja egal, wo es war.
In mir drin wieder nur leere – nur das gefühl: Zum glück ist es irgendwann mal vorbei, ganz vorbei, endgültig – nichts mehr dann, was ich ist – keine gedanken und gefühle, keine kämpfe mehr, keine hoffnungen – keine verzweiflung mehr über die menschen. Nie mehr dann das tägliche ausbalancierenmüssen der gefühle, – daß ich die menschen so lieb hab, aber manchmal möchte ich nur mit der MPi reinhalten! „Das wunder und der schrecken, ein mensch zu sein“, sagte don juan.

„Ich bin nicht neugierig, eigentlich – „, hat anne gesagt.
„Ja.. ja; das glaub ich auch. Aber du warst es mal, früher – “
„Ich war es mal – – ? Ja, – früher war ich’s mal..“
Was ich ihr vorgestern geschickt hatte, das hat anne aus dem briefkasten geholt, aber sie hat es noch nicht gelesen; dafür erzählt sie mir abends am telefon: „Ich hab mir zwei platten gekauft – und zwei bücher – – Ich mußte mir mal was gutes tun..“

Ich denk an mumina, unser zwergkaninchen damals: Wie neugierig und lebensfroh war sie als jungtier – dann später hatte sie noch genausoviel freiraum (und sicher nichts schlechtes erlebt bei uns), aber saß doch nur stundenlang unter dem sofa. Sie wollte nichts mehr, hat nur noch auf ihr fressen gewartet.

Die neugier und intelligenz ist durchaus noch vorhanden, aber sie wird eingesetzt ausschließlich, um den jeweils gewollten status quo zu erreichen. Sobald ein neuer zustand angestrebt wird – und sowas wird zunächst definiert, wird eingepaßt in den rahmen der gesellschaftlichen normen und sprachregelungen, der anerkannten rollen – , kann alle neugier und intelligenz aktiviert werden für dieses ziel. Niemals aber lebt die lebensneugier, die intelligenz, die genauheit, die aufmerksamkeit einfach so, niemals mehr wächst sie alltäglich in das leben rein, das eben vor ihnen auftaucht! Nur bei kindern ist das so, – und bei gewissen „außenseitern“.

Zu wissen, was ein arbeitskollege „verdient“, ist wie schleichendes lähmendes gift; sogar ich kann das vergleichen, das abwägen dann nicht ganz zurückdrängen. Ich will das nicht! Die arbeit, die ich mache, das geld, das ich dafür bekomme, muß innerhalb meines lebens miteinander im gleichgewicht stehen – mit dem lebenszusammenhang anderer hat das nichts zu tun! Wenn jemand mehr bekommt als ich, dann macht er eventuell dennoch weniger lebendigkeit daraus als ich aus meinem kleineren gehalt. Wenn der sich wohl fühlt mit dem geld, das er bekommt – dann kommt das in der konkreten arbeitssituation auch mir zugute.
Es ist vielleicht eine elitäre einstellung, geld nicht ernst zu nehmen; aber ich will doch auf meinem zweifel beharren, ob lohnabhängige in jedemfall weniger abhängig sind, wenn sie mehr lohn bekommen.

Was ist ‚menschliche reife‘ im guten sinne? – Komplexität, vielschichtigkeit? Oder entfaltete ganzheit?

In der firma. Gegenüber einem der aushilfskräfte (student im 17. semester) erwähne ich, daß ich mich viel lebendiger und froher fühle, seit es wieder wärmer ist.
„Aber heute ist doch gar nicht so schönes wetter!?“
„Naja, aber im gegensatz zum winter mein ich – “
„So warm wie gestern und vorgestern ist es doch heute nicht!“
„Schon, – aber im gegensatz zum ganzen winter meinte ich.“
Da gibt er auf. Noch das winzigste krümelchen abwertung destillieren manche menschen aus einer situation, um ihre eigene negativität projizieren zu können. Da aber, wo die abwertung (und kritik) hingehört in ihrem eigenen leben, da bringen sie sie nicht an; das könnte ja unbequeme folgen haben.

14. märz 1985 – michail gorbačov ist zum nachfolger von černjenko gewählt worden!!

‚Entfremdung‘ könnte ein ontogenetisches zwischenstadium sein: eine funktionale distanz zwischen verschiedenen bereichen sozialer lebendigkeit, eine entkopplung, die nötig geworden sein könnte, weil das menschliche bewußtsein schließlich immer komplexer geworden ist. Resultat könnte sein ein soziales system funktional miteinander verbundener sub-systeme. Auch die schrecklich toten sozialen rollen und sozialen gruppierungen, in denen die meisten menschen heutzutage steckenbleiben, sind dann vielleicht nur wachstumsschwierigkeiten.
Vermutlich zu optimistisch gedacht.

In Berlin hatte er einmal, unter unmittelbarer Lebensgefahr, einen Menschen von den Schienen der Untergrundbahn weggerissen, der eine Sekunde später zermalmt worden wäre. (Theodor W. Adorno: ‚Berg – der Meister des kleinsten Übergangs‘)

In der firma; die sonnige swingende sannyasi kocht vor wut wegen einer altkollegin: „Die frau ist so falsch!“ – und weiß nicht, wie sie ihr entgegentreten soll; dieselben waffen will sie nicht anwenden.
„Naja, deswegen biste doch hier“, hab ich gesagt: „um genau das zu lernen!“ – und wir haben uns gefreut.

Ein fahrer (student) guckt auf mein bemaltes t-shirt: „Na, das ist ja nicht sehr phantasievoll!“
Ich verweise auf seine kleidung, in der gewiß noch weniger phantasie zum ausdruck kommt. „Na, das ist ja auch gekauft!“
Der anspruch, phantasie zu haben, ist also kein grundsätzlicher ans eigene leben, sondern er gehört in die schublade ’selbstgemachtes‘. In der schublade ‚gekauftes‘ hat er nichts verloren; dorthin würde gehören, wieviel hat etwas gekostet.
Sie schieben nur noch steinchen auf feldern hin und her..

Bindehautentzündung. Ich spüre, wie das kranke auge das bedürfnis hat, als einzelnes geschlossen zu bleiben. In gesundem zustand wollen die muskeln beider augen synchron reagieren..

Ursprünglich aus einem tagebuch von 1984/85; in die veröffentlichten paßte es nicht rein, aber wegschmeißen wollte ich’s doch nicht. Jetzt soll es hier stehen. Für anne f. – wo du auch bist. Hoffentlich geht’s dir gut!

Berliner Links (I)

http://www.friedrichshagen.net/
Infos aus Friedrichshagen, dem städtchen am müggelsee, hinter köpenick. Früher mal ein ort der literatur.. und heute?
http://www.alt-berlin.info/
Das berliner stadtplan-archiv
http://www.anderes-berlin.de/
Die ganz persönliche berlin-site des berliners alexander glintschert
http://www.berliner-stadtplan.com/
Der aktuelle berliner stadtplan online (von PHARUS), eignet sich gut zum weiterschicken von links
http://www.friedrichshainer-chronik.de/
Der name sagt schon alles!
http://www.berliner-untergrundbahn.de/
Eine in ihrer ausführlichkeit beeindruckende (private) präsentation!
http://www.gew-berlin.de/documents_public/Schauplatbiblio92.pdf
Berlin als schauplatz in der kinder- und jugendliteratur. Die bücher werden inhaltlich vorgestellt.
http://www.berlins-gruene-seiten.de/
Gärten und parks werden vorgestellt.
http://www.diegeschichteberlins.de/
Die website des Vereins für die Geschichte Berlins e.V.
http://www.gereonrath.de/recherche.html
Viele gute links und literaturhinweise, die der schriftstller volker kutscher zur recherche für seine im berlin der Weimarer Republik spielenden krimis genutzt hat. (Die krimis hab ich allerdings nicht gelesen.)
http://www.gerhildkomander.de/
Gerhild komander ist zweifellos die gebildetste berliner stadtführerin!
http://www.berlinica.com/
Berlinica, The First American Publishing Company for Books, Movies, Music, and More From Berlin
http://www.bordell-berlin-doku.de/bordell-berlin.html
Ein aspekt der sozialen realität, der in geschichtsschreibung meistens ausgelassen wird. Von wolf tasler. Sehr lesenswert!
http://www.koepenick.net/
Schon vor der wende hatte ich davon geträumt, in köpenick zu wohnen, – jetzt ist es realität geworden! Köpenick – hirschgarten – friedrichshagen, die ecke ist ein geheimtip. Ich hoffe sehr, es kommt noch ein bißchen kultur & lebendigkeit hierher, bevor die mieten auch hier steigen!
http://www.landesarchiv-berlin.de/lab-neu/07_00.htm
Die linkliste des Landesarchivs Berlin.
http://berlingeschichte.de/
http://www.luise-berlin.de/
Die beiden Webites des Luisenstädter Bildungsvereins e.V. – sehr empfehlenswert!
http://www.radioberlin.de/startseite/themen/reparieren_statt_wegwerfen.html
Hinweise zu reparaturbetrieben im zeitalter des wegschmeißens! Von einem radiosender; ich höre kein radio, aber die liste ist eine sehr gute idee!
http://www.stattwerke-consult.de/docs/troedelflyer_002.pdf
Die trödelläden in der flughafenstraße (in rixdorf – heute: neukölln)

Kurt Münzer: Berliner Vorfrühling

Er ist da, ehe die Bäume ausschlagen. Während noch im Gebirge die Rodelschlitten fliegen, draußen auf dem ebenen Lande gerade das Tauen beginnt, schwimmt Berlin schon im geschmolzenen Schnee, in Sonnenschein und Frühlingslust. Wie herrlich sind die Pfützen auf den Straßen! Sie spiegeln Licht und schmale Frauenschuhchen, sie spritzen sprühend auf unter Autorädern und Pferdehufen, sie versetzen das Himmelblau auf die Straße; zwischen zwei Himmeln wandelt man. Wie schön, wie glückspendend sind die Frühlingspfützen auf den Straßen!
Alle sozialen Probleme sind gelöst: das Glück ist leibhaftig über die Menschen gekommen. Die Armen, Verkommenen, Elenden scheinen zu lächeln, da Sonne ihr Gesicht verklärt – nach dem bitterlichen Frost, dem Nebel, der Winterdämmerung so vieler Monate. Die Straßenkehrer sind fix und froh geworden, rufen sich allerlei zu, womit sie sich zum Lachen bringen wollen. Die Damen lassen ihre Boas und Pelzschals anmutig über die Schultern gleiten, lassen Schmuck werden, was so lange nur Schutz war, sie heben ihre Röcke, und entzückt sieht man wieder den ersten Florstrumpf, durch den der Glanz des schlanken Beines bricht. Sie rennen nicht mehr, die Fräulein, um sich warm zu laufen, sie schwanken nicht mehr auf Glatteis, sie trippeln wieder, zögernd, schlendernd, sie stehen sinnend am Straßenbord und überlegen, wie über die Pfütze hinüberkommen; sie machen einen reizenden kleinen Sprung – und die Pfütze spiegelt das Herrlichste von allem; der Himmel verdunkelt sich darüber.
Über Nacht hat eine Auferstehung stattgefunden. Statt vermummter, unförmiger Gestalten wieder schlanke, ranke Figuren, erhobene Köpfchen; die jungen Herren im leichten Ulster, die ersten Halbschuhe an den Füßen, den Schnurrbart nicht mehr bereift, das Stöckchen in der leicht bekleideten Hand. Die Straßenbahnführer sind wieder Menschen, es steht kein Ungeheuer in Pudelfellen und -mützen mehr am Steuer. Und drinnen im Wagen wird man nicht mehr als fühlloses Stück Gefrierfleisch behandelt, nicht mehr blickt man mit tödlichem Haß auf die Bevorzugten, die über der Heizung sitzen; wenn man auch die Beine hochhalten muß, um nicht im Morast stecken zu bleiben, den jeder neue Fahrgast mit hereinschleppt – die Sonne blitzt doch in die Scheiben, sie wärmt den Rücken, macht so menschenfreundlich – man ist wider Willen glücklich. Aber der leibhaftige Frühling, der blühende duftende Lenz, ist doch nur am Potsdamerplatz. Da stehen in langen Reihen, vom Bahnhof bis zur Wertheimhalle, wo der Bärenbrunnen wie ein Frühlingsbächlein plätschert, die Blumenfrauen von Berlin. Ruinen schöner Festungen, deren einstige Bestimmung die unaufhörliche Übergabe war, Reste einer glänzenden Vergangenheit, einst die Dekoration der Friedrichstraße, jetzt Girlande vom Bahnhof zu Wertheim, stehen diese Frauen da, auf ihrem Bauch schaukelnd einen langen Korb, aus dem der Frühling quillt. Sie, geboren zur Vergangenheit, sie, die Frauen ohne Zukunft, sind die Gevatterinnen des Kommenden. Sie sind alt, stumpf, trocken, die Ehrenjungfrauen des Frühlings, seine Bannerträgerinnen, seine Herolde. Sie verkünden seinen Reichtum, Duft und Glanz. Sie schwingen Mimosensträuße und Tulpenbündel, Veilchentuffs und Maiglöckchenstengel, Anemonen und Ranunkeln, römische Narzissen und neapolitanischen Zwiebelblüten. Eine tagtäglich erneute, nie welkende Girlande stehen sie da, Korb an Korb, Beet neben Beet, schwankend wie im Föhn, Duft verbreitend, Hoffnungen weckend, Glück spendend. Über ihnen schaukeln die noch nackten Äste der alten Kastanien und Rüstern, noch steigt der Saft in ihnen nicht hoch, noch ist Café Josty nicht umgrünt, die Normaluhr noch nicht umwallt von Flieder und Rotdorn, aber unter ihnen blüht es schon wie in den Gärten von Cannes, an den Abhängen von Santa Margherita, auf den Hügeln von Florenz…
Und noch ein untrügliches Zeichen gibt es für den Anfang des Frühlings in Berlin: wenn in den „Zelten“ das erste Gartenkonzert exekutiert wird. Wenn nur die Sonne scheint – mag es draußen noch so naß und windig sein , da konzertiert schon im Pavillon die schwarze Musikantenschar, und an den Tischen sitzt, gut verpackt, die Menge der Vorstadtdamen, jung und alt, bei Kaffee und Bier. Gefällige Gatten, Brüder, Bräutigams tauchen hier und da auf, und draußen vor dem Gitter, am Tiergarten entlang promenieren die, die Musik im Gehen zu genießen lieben. Das ist der erste Frühlingssonntag in Berlin! Mag nun noch einmal Schnee und Frost kommen: der Frühling ist da! Er blüht am Potsdamerplatz, er ist feierlich in den „Zelten“ unter Musikklängen proklamiert worden. Schon nimmt der nächtliche Tiergarten die ersten Liebespaare auf, klingen von heimlichen Bänken zärtliche Seufzer. Schon verlassen die Möwen die Charlottenburger Schleuse, der Neue See ist aufgetaut, statt Schlitten werden Boote instand gesetzt. Wie lange noch, und um acht Uhr abends werden die Bahnen gestürmt und Grunewald und Treptow erstrebt; wie lange noch, und der erste Strohhut taucht in der Tauentzienstraße auf, die erste Berlinerin geht „per Taille“ zu Wertheim, die Frau Konmmerzienrat kehrt aus Nizza zurück und findet, daß Berlin in schönerem Frühling schwelgt!
Denn nicht überall ist der Frühling so herrlich wie in dieser Stadt. Überall sonst kommt er langsam, Tag für Tag eine Knospe mehr, eine Nuance heller, ganz vorsichtig, zögernd, verschämt. Aber in Berlin bricht er über Nacht herein, fällt mit Musik und Blütenüberschwang nieder, kommt ungeduldig, viel zu früh, halb erfroren, in Gefahr, sich noch einmal verstecken zu müssen. Nur in Berlin funkeln mit einem Schlage ungezählte Millionen Fensterscheiben, blühen Millionen Menschen auf, entstehen zahllose Lenzgedichte und Feuilletons. Berlin ist ja so jung, so schnell, so ungeduldig; es kann nie warten; unreif pflückt es die Früchte, nimmt den Frühling im Februar vorweg, kommt zu früh heraus mit seiner Premiere wie ein ungeschickter Direktor. Aber muß man diese ungeduldige Jugend nicht lieben? Ist diese junge, rasche, überschäumende, mutwillige Stadt nicht schön, liebenswert, – würdig, besungen, verherrlicht zu werden? Und wenn erst wirklich die Kastanien am Landwehrkanal ihre grünen Finger mit den weißen Kerzen ins stille Wasser tauchen, die Schwäne im Mondschein um die Rousseau-Insel gleiten, im Bogenlampenschein die Leute auf der Terrasse von Josty sitzen und über die Zoo-Mauern die Arien Toskas und Musettes zu den Liebenden in den Tiergarten hinüberklingen, ist dann Berlin nicht selbst ein Gedicht von Jugend, Lenz und Liebe?

Erstveröffentlichung in: Kurt Münzer: ‚Unter Weges‘ (München 1921), wiederveröffentlicht bei http://www.autonomie-und-chaos.de in: Kurt Münzer: ‚Bruder Bär. Novellen und Feuilletons'(Leipzig/Berlin 2011) (kostenloses e-book).