J. S. Bach als Protagonist einer neuen Musik !

Es hat sich nachgerade eingebürgert, in Bach den großen Vollender zu erblicken, der auf allen Schaffensgebieten das letzte Wort gesprochen und seinen Nachfahren nichts zu vollenden übrig gelassen habe. Die gründliche Revision aller Stilgrundlagen, die während seiner zweiten Schaffenshälfte einsetzte und an denen er keinen Teil hatte, läßt dieses Urteil verständlich erscheinen.
Die musikalischen und geistigen Ausmaße Bachs sind dermaßen überdimensioniert, daß man hundert Jahre lang und länger, zumal man unter dem Eindruck einer teilweise nur zum Scheine und gewissermaßen lediglich aus Anstandsgründen die Bachsche Kunst respektierenden neuen Musik stand, einen viel zu geringen Abstand von ihr hatte, um ihr mehr als billiges und konventionelles Lob zollen zu können.
Erst seit der Jahrhundertwende beginnt sich die perspektivische Verzerrung zurückzubilden und zurechtzurücken, und im 20. Jahrhundert lernen wir allmählich einsehen, daß Bachs Kunst ein Janusgesicht trägt, von welchem vergangene Zeiten immer nur die eine Seite kannten und anerkannten, während wir dessen innezuwerden beginnen, daß dieses Gesicht sich auch unserer Gegenwart zuwendet. (…)
Zu den Werken, die nicht abschließen, sondern eröffnen (…), gehören die meisten in Köthen geschaffenen Instrumentalkompositionen und mit an erster Stelle das Wohltemperierte Klavier.

Walther Vetter: Der Kapellmeister Bach
(Potsdam 1950, S. 166)

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